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Gefüllte Siebenschläfer - Teil 1

08.06.07 @ 18:55

Das erste, was mir in Balaor auffiel, war ein gefallener Engel. Er hatte jeglichen Halt verloren und war gestürzt. Engel tun das manchmal, man kennt die Geschichte ja von Luzifer. Mein Engel erinnerte nach dem Absturz von seinem mannshohen Natursteinsockel allerdings eher an einen Autofriedhof als an den Höllenpfuhl. Seine Flügel waren verbogen, seine Rüstung war verbeult und sein Flammenschwert geborsten. Kaum noch zu reparieren, dachte ich mit Kennerblick und freute mich insgeheim, dass ich in Balaor, wenn es denn mit meiner Anstellung als Archäologe klappen sollte, nicht für gefallene Renaissanceengel, sondern für alte Römersteine zuständig sein würde.

Ich wollte gerade über den Blechhaufen steigen, um zu den Stufen der Präfektur zu gelangen, da bemerkte ich, dass der Bronzeengel eine für seine Gattung ziemlich ungewöhnliche Eigenschaft entwickelte: Er verlor Blut. Ziemlich viel Blut sogar.

Ich kam nicht einmal bis an die unterste Schwelle der Freitreppe, die zum Portal mit den beiden Marmortritonen führte. Ihre Gesichter zogen steinerne Grimassen, die mir in einer Situation wie dieser ziemlich unangebracht schienen. Andererseits hatten die beiden Fratzen im Gegensatz zu mir leicht lachen. Ich sah mich nämlich plötzlich von Carabinieri und Sanitätern umringt, die aus Autos sprangen und sich von Motorrädern schwangen, eine Bahre herbeitrugen und mich in einen Pulk von Passanten abdrängten, der sich mit jeder Sekunde weiter aufblähte und daher von der Obrigkeit mit Seilen und Sperrgittern gebändigt werden musste.

„Ich habe einen Termin beim Präfekten“, sagte ich zu einem der Ordnungshüter, der mir jedoch nicht zuhörte, sondern seine Augen auf das blutrot schraffierte Stück Mensch richtete, das von den Sanitätern gerade aus den Engelskarkassen geschält und auf die Bahre gehievt wurde. Der Engel hatte seinem Opfer die Hornbrille von der Nase geschlagen, die jetzt mit zersplitterten Gläsern traurig an einer schwarz schimmernden Kordel von seiner Schulter hinab baumelte. Die Brille war übrigens nicht das einzige, was an diesem Mann, der einen schwarzen Anzug und eine dunkle Krawatte trug, zu Bruch gegangen war. Seine Schädeldecke sah auch danach aus.

Ein weißer Wagen mit flackerndem Blaulicht verschluckte den schwarzen Mann, dafür gaben die beiden fischleibigen Tritonen oben an der Treppe einen anderen frei. Da dieser nicht nur würdig, sondern mit seiner in graue Schläfen mündenden Halbglatze und einem wachsamen Blick auch einigermaßen vertrauenswürdig aussah, turnte ich über die Absperrung hinweg und lief die Treppe hinauf geradewegs auf ihn zu. „Ich muss zum Präfekten, es ist dringend“, sagte ich, während ich meine Schulterblätter schon im Zangengriff zweier Carabinieri spürte, die mich die Treppe wieder hinunterziehen wollten.

„Ich bin der Präfekt“, sagte der Mann im dunklen Anzug.

„Wir wollten über das Lapidarium reden“, brachte ich gerade noch heraus, bevor sich jede Menge Carabinierifinger wie Stacheln unter meine Schulterblätter bohrten.
„Ach, der neue Kustos!“ Die buschigen Augenbrauen des Präfekten zuckten gebieterisch und die Stacheln zogen sich auf wundersame Weise aus meinem Fleisch zurück. „Wir müssen später reden. Kommen Sie am Nachmittag um vier wieder. Sie sehen ja, ich werde gebraucht.“

Kein gutes Omen für ein Vorstellungsgespräch, dachte ich, während ich mit heftigen Ruderbewegungen gegen den Strom der Passanten ankämpfte, die trotz der Absperrungen weiter auf die Palasttreppe drängten. Das Blaulicht blinzelte mir noch ein letztes Mal zu, bevor es in einer der engen Altstadtgassen verschwand.

Die Uhr am Campanile der Sankt-Euphemien-Kathedrale schlug elf. Hätte der heilige Michael meine Pläne nicht durchkreuzt, dachte ich, so säße ich jetzt wohl bereits im Büro des Präfekten, bekäme vielleicht sogar einen Espresso serviert und würde ihm und dem Kulturdezernenten schildern, wie ich mir die Leitung eines altrömischen Lapidariums vorstellte. Welchen Verlauf das Gespräch auch genommen hätte, ich wäre jedenfalls pünktlich gewesen. So jedoch trennte mich eine fünfstündige Karenzzeit von meiner beruflichen Zukunft und riss ein Luftloch in meine Karriereplanung, dem ich in Richtung Altstadt entschlüpfte.

Ich beschloss, die Zeit zu nützen, um mich etwas näher mit der Inselstadt vertraut zu machen, in der ich mich um die Leitung der bislang verwaisten altrömischen Grabsteinsammlung in einem toten und, wie ich in der Ausschreibung gelesen hatte, touristisch bisher ziemlich ungenützten Winkel hinter der Kathedrale beworben hatte.

Auf dem Weg dorthin kämpfte eine sanfte Meeresbrise, die durch die Kopfsteingassen wehte, vergeblich gegen das Flirren der Mittagshitze an. Ich wischte mir ein Sandkorn aus dem rechten Augenwinkel, spürte Salz auf den Lippen und bemerkte, wie durstig ich war.

Die zahlreichen kleinen Altstadt-Bars waren durchwegs gut gefüllt und ich wurde das Gefühl nicht los, dass die vielen Menschen, die in den Gassen unterwegs waren, sich in Wahrheit nur auf dem Weg von einer Kneipe in die andere befanden. Als wollten sie gerade diesen Eindruck widerlegen, trugen die meisten Passanten allerdings mit mehr oder minder bedeutender Miene Mappen, Aktenordner, Werkzeugkästen, Laptops, Pappkartons, lange, spitze Eisenstangen oder Hunde, Katzen und Kinder in Säcken und Körben mit sich herum – Beweisstücke dafür, dass sie ihre Kneipenrunden einzig und allein aus beruflicher oder familiärer Pflichterfüllung drehten. Das hinderte sie freilich nicht daran, auf den einzelnen Etappen ihrer vormittäglichen Routen da einen Fernet und dort ein Gläschen Malvasia zu kippen, was die Stimmung in der Stadt trotz der Trübung durch das Attentat des Engels aus Erz zu einer hellen und sommerlich-vergnügten machte.

An einem Ort wie diesem, dachte ich, da ließe es sich schon eine Weile aushalten, auch wenn das Lapidarium von Balaor mir, wie ich gestehen muss, eher als zwischenzeitlicher Notnagel denn als strahlende Aussicht für meine archäologische Karriere erschien.

Was meine Zukunft betraf, so hatte ich dieselbe noch vor ein paar Tagen wesentlich sicherer im Griff gehabt als heute, zumal ich kurz vor der Unterzeichnung eines Vertrages als wohlbestallter Direktor des Museo Archeologico von Aquileia gestanden war. Doch dann hatte sich, einen Tag vor Ende der Ausschreibungsfrist, noch diese Etruskologin aus Mantua ins Spiel gebracht. Jetzt bewacht sie dort mit ihren tiefgründigen Onyxaugen die bunten Mosaikböden mit den dicken Fischen und den zierlichen Singvögeln sowie die alten Tempelruinen, die allesamt spannender sind als das meiste, was Balaor in dieser Hinsicht zu bieten hat. Dabei waren die Etrusker in Aquileia ebensowenig zugange wie die Azteken und Mayas, bei deren Erbmasse ich mir während meiner Zeit in Mexiko meine archäologischen Qualifikationen erworben habe. Andererseits hätte ich die hübsche junge Dame mit ihrer gemmenhaften Silhouette und dem aparten Augenschnitt, wäre ich der Bürgermeister von Aquileia gewesen, auch statt meiner engagiert. Aber so sind wir halt, wir Männer.

Fortsetzung folgt

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