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Christoph Wagner's Weblog
23.12.05 @ 01:52
Seelenluft (statt eines Weihnachtsmärchens)
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Das allgemeine, im Physiologischen wurzelnde, aber längst auch die Seelen der Menschen anknabbernde Unheil unserer Zeit kündigte sich bereits in den 70er Jahren an, damals, als man allmählich begann, Zelluloid durch Magnetaufzeichnungen zu ersetzen und den Zügen die Zugluft abzuschneiden.
Den Zügen folgten die Hotels, die Restaurants und, das Wichtigste von allem, die Büros. Das musste dazu führen, dass den Menschen, wiewohl sie denn nach wie vor zu atmen schienen, allmählich die Luft wegblieb, und ein solcher Verlust kann über kurz oder lang nur zu tiefen Depressionen führen.
Die Menschen, die ahnten, dass jemand ihnen die Luft abgeschnitten hatte, suchten also nach einem Sündenbock und fanden ihn in den Rauchern. Diejenigen, welche ihnen tatsächlich die Luft abgeschnitten hatten, unterstützten diese These. Schließlich hofften sie dadurch für ihre eigene Urheberschaft an der Tat nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Es stellte sich allerdings heraus, dass die Menschen, obwohl sie die Raucher allmählich mit Erfolg aus ihren Räumen, Büros, Zügen und Restaurants verbannt hatten, zwar weiter atmen konnten, aber dennoch keine Luft bekamen. Zumindest keine frische, lebendige Luft, die auch ihre Gesichtszüge lebendig erscheinen hätte lassen. Die Menschen atmeten weiter, doch ihre Gesichter froren ein und näherten sich allmählich einer stetig lächelnden Leichenstarre an.
Auch das, wonach die Menschen zwischen ihren Aufenthalten in den luftlosen Räumen gierig beim Joggen, Tennisspielen und Golfen schnappten, erwies sich nicht als Luft, sondern lediglich als CO2-hältiges Surrogat für etwas, das ihnen längst, spätestens in den 80ern oder den frühen 90ern abhanden gekommen war.
Was mit der abgeschnittenen Luft begann, traf allmählich auch auf die Kunst zu, auf die Häuser, die Straßen, die Märkte, die Küche, ja sogar auf den Wein. All das schien immer noch da zu sein, aber nichts Lebendiges mehr war darin. Nicht nur die Menschen, auch die Gegenstände, die sie umgaben, hatten zu atmen aufgehört.
Wie denn auch, ohne Luft?
29 Kommentare | Kommentar abgeben
PICCOLO, 24.12.05 @ 12:38
Stube zu klein??
Man ist groß (minimalist) und verneigt sich nur mehr gerne vor noch Größerem. Klein war die Vergangenheit
So wachsen auch Gäste und Kritiker von Restaurants immer gerne über ihre Eleven hinaus, halten sie an ihrer Leine, dirigieren, reüssieren, kastrieren. Und wie ergötzlich finden sie in dann anderen Wäldchen die dickeren Baumstämme von Bedeutung. Luftverbleiung.
„Aber die Stube”, schrieb vor fast 500 Jahren A.B.T.v.H. in seinem >Volumen Paramirum
PICCOLO, 24.12.05 @ 12:37
Stubenluft....
Man ist groß (minimalist) und verneigt sich nur mehr gerne vor noch Größerem. Klein war die Vergangenheit
So wachsen Gäste und Kritiker von Restaurants immer gerne über ihre Eleven hinaus, halten sie an ihrer Leine, dirigieren, reüssieren, kastrieren. Und wie ergötzlich finden sie in dann anderen Wäldchen die dickeren Baumstämme von Bedeutung. Luftverbleiung.
„Aber die Stube”, schrieb vor fast 500 Jahren A.B.T.v.H. in seinem >Volumen Paramirum
ChristophWagner, 23.12.05 @ 21:39
Hol´s der Teufel, Minimalist!
Da haben wir doch — meiner pessimistischen Weltsicht zum Trotz — schon wieder eine Gemeinsamkeit entdeckt. Ja, auch ich halte Pierre Boulez für einen der größten Dirigenten unserer Zeit, erlaube mir aber anzumerken, dass all seine Versuche, dem Museum der Vergangenheit zu entfliehen (und Opernhäuser in die Luft zu sprengen) , zuletzt bei den guten alten Bayreuther Festspielen, vor allem aber in Stift Sankt Florian endeten, wo er mit einem bekannten Avantgarde-Ensemble namens Wiener Philharmoniker Bruckners Achte dirigierte. Formidabel, nebenbei.
jamiesolive, 23.12.05 @ 19:02
lüfteverortung
ich versuche es anhand zweier beispiele zu erklären.
verortbare lüfte: „und durch die übertrümmerten klüfte zischen und heulen die lüfte." (goethe)
unverortbare lüfte: „ruhen sie sanft, wenn milde, wie sonst, die lüfte der jugend. " (hölderlin)
zufrieden?
stgruber, 23.12.05 @ 18:05
@pastinake
das ist auch gut so. gehe auch gerne laufen, etc. war keine kritik an diesen tätigkeiten. ist mir nur zu cw's posting eingefallen.

--- 04.09.18 @ 20:56
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